Der Fernseher läuft. Er laufe ununterbrochen, erzählen Ivanna Dercho und ihr Mann Viktor, auf ukrainischen, deutschen und russischen Kanälen. Abschalten scheint, auch im wörtlichen Sinn, unmöglich geworden zu sein.
ANDREAS FISCHER, reformierter Pfarrer Kaiseraugst
Ivanna ist Ukrainerin, Viktor wuchs in Kasachstan auf, sein verstorbener Vater war Weissrusse, seine Mutter ist Deutsche, nach dem Tod des Vaters zog die Mutter mit Viktor und seinen Geschwistern nach Deutschland. „Zur Zeit unserer Väter waren sie alle zusammen in der Armee – Kasachen, Weissrussen, Ukrainer, Russen. Dabei sind Freundschaften fürs Leben entstanden. Alle haben Freunde und Verwandte, hüben und drüben. Was da geschieht, ist nicht okay. Wir denken die ganze Zeit darüber nach, wie dieser Krieg ausbrechen konnte. Und was wir tun können.“
Dass sie nicht viel tun können, eigentlich gar nichts tun können, eigentlich nur warten können, das macht die Situation unerträglich. Ivannas Eltern leben in der Ukraine. Tag und Nacht hat sie ihr Telefon laut gestellt, wenn die Eltern nicht abnehmen, ist sie besorgt. Zurzeit funktioniert die Leitung noch, doch das könnte sich jeden Augenblick ändern. Die Eltern wohnen im Westen der Ukraine, in einem Dorf. Bis vor kurzem hatte man den Eindruck, sie seien dort sicher. Doch nun fallen Bomben auch in jener Gegend. Eine Chemiefabrik in der Nähe sei beschossen worden, Chlor sei ausgeflossen, die Behörden dementieren, man will Panik vermeiden. Klar, doch der reizende Geruch liege in der Luft. Die Nächte verbringen die betagten Menschen im Luftschutzkeller.
Ivanna fleht sie an, hierher zu kommen. Die Mutter wäre bereit zu fliehen. Doch der Vater will das Dorf, in dem er sein ganzes Leben verbracht hat, und das Haus, das er selber erbaut hat, nicht verlassen. Ivanka, die siebenjährige Tochter von Ivanna und Viktor, hat kürzlich zum Opa, den sie sehr liebt, gesagt, sie werde nicht mehr mit ihm sprechen, wenn er sich weiter weigere, in die Schweiz zu kommen. In ihren Träumen verarbeitet das Mädchen, was sie kognitiv noch kaum versteht. Manchmal spreche sie im Traum: „Mama, die Kinder haben nichts zu essen. Komm, wir verstecken Essen, damit wir es ihnen bringen können.“
Todkrank in Cherson
Ivannas Schulfreundin lebt in Cherson. Die Stadt wurde gleich zu Kriegsbeginn von drei Seiten umzingelt. „Die vierte Seite“, sagt Viktor bitter, „ist das Meer.“ Die Freundin ist todkrank, Lungenkrebs. Dennoch kommt sie nicht aus der Stadt raus. Den humanitären Korridoren kann man nicht trauen, überall lauern Scharfschützen, die auf die Flüchtenden schiessen. „Warum lässt man die Frau nicht durch?“, fragt Viktor. „Lasst sie doch leben, wenigstens die paar Monate, die ihr noch bleiben. Sie wird euch gewiss nichts tun.“
Die Freundin sendet Kurznachrichten, Fotos, Videos, erzählt von Essensresten, die man im Keller teilt, Angebote humanitärer Hilfe von russischer Seite werden nicht angenommen, weil man eine Falle befürchtet. Die Bilder von Häuserruinen und abgetrennten Körperteilen seien unerträglich. Als in einem Video eine Explosion ertönt, schaltet Ivanna das Handy leise. Die Tochter soll von dem Grauen möglichst verschont bleiben. Manchmal sagt Ivanka: „Mama, schau nicht immer Fernsehen. Nicht immer diese Bilder.“
Ivanna und Viktor wirken müde. Was ihnen helfe in diesen Zeiten, frage ich. Eigentlich nichts, sagen sie, sie seien beide nervös, gereizt, manchmal verzweifelt. Manchmal setze sie sich in die ökumenische Kirche in der Liebrüti in Kaiseraugst, erzählt Ivanna. Dort in der Stille zu verweilen, das beruhige sie.
Ivanna ist orthodox aufgewachsen. Ihre Oma organisierte ihre Taufe, diese musste – zu Sowjetzeiten – geheim stattfinden, sonst hätten die Eltern ihren Job verloren. Doch in ihrem Dorf waren fast alle getauft.
Rituale und Wünsche zu Ostern
Wie sie Ostern in ihrer Kindheit gefeiert habe, frage ich weiter. Ivanna erzählt von der vierzigtägigen Fastenzeit, in der man auf alle tierischen Produkte und Alkohol verzichtet. Von den Nächten zwischen Karfreitag und Ostersonntag, in denen man nachts in der Kirche sitzt und die orthodoxen Gesänge erklingen. Von den Prozessionen mit Körben voller Brot, Fleisch, Käse, bemalten Eiern: Dreimal geht man um die Kirche herum, der Priester besprengt das Essen mit Weihwasser, dann, am Ostermorgen, wird das gesegnete Essen verzehrt. Und man tauscht unter Nachbarn Teller mit Brot und Süssigkeiten aus und bittet sich gegenseitig, für die Seelen der Verstorbenen zu beten.
Heute feiern die Derchos Ostern im kleinen familiären Kreis, mit geschmückten Zweigen, einem speziellen ukrainischen Brot, das Ivanka nach Lust und Laune formen kann. Und beim Eiertütsche, erzählt Ivanna mit einem Anflug von Heiterkeit, gebe es für die Tochter auch mal ein Entenei mit harter Schale. Dann wird ihr Blick wieder ernst. Für Ostern wünsche sie sich, dass ihre Eltern in Sicherheit seien. Und der Krieg vorbei sei. „Und kein Mensch je mehr weiss, was Krieg ist.“
Ivanna ist studierte Biologin. Sie brach in jungen Jahren aus der strukturschwachen Gegend auf, in der sie aufgewachsen war, wurde Lehrerin an einer ukrainischen Schule in Lissabon. „Dann“, sagt sie, „lernte ich meinen Victor kennen. Er sagte, komm zu mir in die Schweiz, wenn du magst.“ 2011 heirateten die beiden, 2015 kam Ivanka zur Welt. Ivanna arbeitet als Reinigungskraft, neben vielen anderen Gebäuden putzt sie die erwähnte ökumenische Kirche Liebrüti. Alle ihre Arbeitgeber sind von ihr begeistert, und nie hört man Ivanna klagen über strenge Arbeit und schlechten Lohn. Nichtsdestotrotz: Dass die Akademikerin im Reinigungsdienst arbeitet, lässt einen ahnen, dass die Biografie nicht linear verlaufen ist. Dass manche Träume unerfüllt geblieben sind. Das sei so, sagt Ivanna, doch das sei okay. In schwierigen Zeiten bete sie. Gott habe ihr immer geholfen. In schwierigen Zeiten bete sie. „Und, hilft Gott?“, frage ich. „Ja“, sagt sie, und ihr Blick verrät Erstaunen über meine Frage. „Gott hat mir in schwierigen Zeiten immer geholfen. Er hat mich beschützt.“ Sie glaube, er werde das auch jetzt tun.
Bilder: (oben) Ivanna Dercho hofft auf baldigen Frieden in der Ukraine.
(unten) Der Fernseher zeigt immer die gleichen Bilder. Fotos: zVg